Stefan Berger wurde 1946 in Heidelberg geboren. Nach dem Chemiestudium an der Universität Tübingen promovierte er 1973 im Arbeitskreis von Anton Rieker mit einer Arbeit zur Synthese und Kohlenstoff-13-Kernresonanz von Oxepinen. Während eines anderthalbjährigen Postdoktorats bei John D. Roberts in Pasadena, USA, traf er auch mit David M. Grant zusammen und lernte viel über Relaxationszeiten. Die Postdoczeit stellte die Weichen für sein Arbeitsgebiet: die magnetische Kernresonanz-Spektroskopie (NMR) in der organischen Chemie. Die Habilitation (1981) über 13C,13C- und 13C,15N-Spin-Spin-Kopplungskonstanten öffnete ihm 1988 den Weg in eine Assistenzprofessur an der Universität Marburg, der schließlich 1997 auf den Lehrstuhl für Strukturanalytik an der Universität Leipzig führte.
Die Möglichkeiten der Pulstechnik in der NMR brillant genutzt
Bergers Einstieg in die NMR-Spektroskopie begann mit seinen Tübinger Arbeiten zur 13C-Resonanz, die mit der von Richard Ernst entwickelten Puls-Fouriertransform-Spektroskopie möglich wurden. Als neues Werkzeug nutzte er in Kalifornien 13C-Spin-Gitter-Relaxationszeit-Messungen, deren Nützlichkeit für die molekulare Strukturforschung er in Übersichtsartikeln 1975 in Angewandte Chemie und später (1978) in Advances in Physical Organic Chemistry darlegte. Mit den Fortschritten in der Messtechnik kam die Spin-Spin-Kopplung zwischen seltenen Kernen homonuklear (13C,13C) oder heteronuklear (13C,15N) und der Einfluss von Deuterium auf die chemische Verschiebung anderer Kerne hinzu als neue Informationsquelle für die Strukturaufklärung organischer Moleküle. Berger verstand es brillant, die Möglichkeiten der Pulstechnik für die Entwicklung neuer Experimente oder zur Verbesserung bekannter Techniken zu nutzen. Neue Entwicklungen der Messverfahren, zum Beispiel die Bestimmung dipolarer Restkopplungen in flüssigen Kristallen oder die diffusionsgelenkte NMR-Spektroskopie griff er schnell auf und zeigte deren Anwendungspotenzial für die organische und metallorganische Strukturchemie. Die große Zahl seiner Koautoren belegt seine einfallsreiche Anwendung der heute verfügbaren NMR-Experimente. Sein in späteren Jahren entwickeltes Interesse an biologischen Problemen und die seit 2013 meist in Chemie in unserer Zeit publizierten Untersuchungen bekannter Pharmaka und Naturstoffe zeigte, dass er über den Tellerrand der organischen NMRSpektroskopie hinausblickte. Berger war einer der großen Lehrer der NMR. Seine Bücher sind internationale Bestseller. Schon sein erstes, mit Siegmar Braun und Hans-Otto Kalinowski verfasstes und 1984 publiziertes Werk über 13C-NMR-Spektroskopie ist ein Klassiker. „Die NMRSpektroskopie der Nichtmetalle“ folgte Anfang der neunziger Jahre in vier Bänden, beide Werke sehr schnell auch in englischer Übersetzung. Mit den Koautoren des 13C-Bandes folgte dann ein für den Praktiker unentbehrliches Kompendium für NMR-Experimente, das schließlich 200 Techniken beschrieb und auch eine Übersetzung ins Chinesische erfuhr. Für das den Naturstoffen gewidmete Werk „Classics in Spectroscopy“ (zusammen mit Dieter Sicker) erhielt Berger 2009 den vom Fonds der Chemischen Industrie ausgeschriebenen Buchpreis. Bei in- und ausländischen Einladungen zu Vorträgen und Gastprofessuren– diese in Spanien, Japan, Australien und Südafrika – und bei der Mitarbeit am GDCh-Fortbildungsprogramm war Bergers Kompetenz hoch geschätzt. 1997 führte er den NMR-Montagnachmittag im Leipziger Institut ein, der als Mitteldeutsches Resonanztreffen (MDR) eine regelmäßige Veranstaltung wurde und im November 2022 zum 50. Mal stattfand.
Direkt, liebenswürdig, engagiert
Seine Kollegen schätzten seine ehrliche, oft sehr direkte Art, die aber durch Humor und vor allem Selbstironie gemildert liebenswürdig wirkte. Kritik kam nicht als Vorwurf, sondern verschmitzt lächelnd. In der akademischen Lehre war er stark engagiert. Das enge Zusammenspiel zwischen Organik-Praktika und NMRAusbildung war ihm ein besonderes Anliegen. Er betreute Dutzende Abschlussarbeiten und Promotionen, und oft hielt der Kontakt weit über den Studienabschluss hinaus. Uneitel und vorwärtsstrebend wurde er als tatkräftiger, helfender Mensch mit offenem Ohr wahrgenommen: ganz Wissenschaftler, ganz Lehrer, ganz Mensch. Er wird uns sehr fehlen.
Der Beitrag erschien in: Nachrichten aus der Chemie