Der Arbeitskreis Funktionsmaterialien arbeitet auf dem Gebiet der Festkörperchemie mit einem Schwerpunkt auf Materialen zur Energiespeicherung und -umwandlung. Dies können z. B. intermetallische Phasen, Metallhydride, Nitride, Silikate, Chalkogenide oder Halogenide sein. Viele Projekte sind interdisziplinär und überlappen mit Kristallographie, Festkörperphysik und Materialwissenschaften.
Die Synthese von Festkörpern hat viele Facetten. Die Methoden reichen von solchen mit „brutaler Gewalt“, also z. B. hohe Temperatur und hoher Druck, bis hin zu „sanfter Chemie“, chimie douce, nahe Umgebungsbedingungen. Sie bedienen sich verschiedenster Techniken, unter anderem Fest-Fest oder Fest-Gas-Reaktionen, chemische Transportreaktionen, solvothermale und Präkursor-Methoden, topotaktische Reaktionen, Schmelzreaktionen, sich selbst erhaltende Reaktionen und Fällen aus Lösung – um nur ein paar zu nennen. Die meisten dieser Techniken werden dazu verwendet, explorativ nach neuen Stoffen zu suchen, welche dann einen potentiellen Nutzen in der angewandten Forschung haben. Die Planung gezielter Synthesen wird durch die geringe Kenntnis über Reaktionsverläufe behindert. In-situ-Untersuchungen erlauben es dies Lücke zu schließen und Reaktionswege aufzuklären, die für die Syntheseplanung und -optimierung von unschätzbarem Wert sind (siehe Schema).
Die Charakterisierung erfolgt hauptsächlich über die In-situ-Röntgen- und Neutronenbeugung, thermische Analyse und Raman-Spektroskopie. Der Arbeitskreis Funktionsmaterialien befasst sich mit einer breiten Palette an Funktionsmaterialien und technischen Prozesse. Die folgenden Artikel sollen einen Einblick in aktuelle Forschungsschwerpunkte geben:
Feststoff-Gas-Reaktionen spielen eine bedeutende Rolle in vielen technologisch wichtigen Prozessen wie der Verhüttung von Erzen, der heterogenen Katalyse, der Synthese von Feststoffen, der Wasserstoffspeicherung und der Korrosion von Metallen und Legierungen. Daher sind diese Reaktionen der Schlüssel für die Produktion, die Einsatzmöglichkeiten und die (Ab-)Nutzung von vielen Funktionsmaterialien. Die Erforschung solcher Reaktionen ist aufgrund der oft harschen Bedingungen technisch aufwändig. Die Neutronendiffraktion ist ideal zur Charakterisierung solcher Reaktionen, da die gängigen Gase wie zum Beispiel H2, N2, O2, H2O, CO oder CO2 sehr leichte Elemente enthalten. Diese Elemente sind in der Kristallstruktur mit der klassischen Röntgenbeugung oft schwer bis nicht erkennbar. Außerdem lassen sich die sperrigen Versuchsapparaturen für In-situ-Bedingungen von den Neutronen einfacher durchdringen, da der Absorptionskoeffizient der meisten Elemente niedriger ist als bei Röntgenstrahlung. Des Weiteren lassen sich mit Neutronen nicht nur die Kristallstruktur, sondern auch u. a. Diffusion, Magnetismus und Gitterschwingungen untersuchen. Für zeitaufgelöste Untersuchungen von Feststoff-Gas-Reaktionen haben wir eine Gasdruckzelle zur elastischen Neutronendiffraktion (siehe Bild) konstruiert. Des Weiteren sind In-situ-Röntgenbeugung, Raman-Spekroskopie und thermische Analyse, jeweils in Abhängigkeit von Temperatur, Gasdruck und -fluss wichitge Stützpfeiler der zeitaufgelösten Verfolgung von Feststoff-Gas-Reaktionen. In unserer Arbeitsgruppe liegt bei diesem Themengebiet der Schwerpunkt auf reversibler Wasserstoffspeicherung in Festkörpern, der Erzverhüttung (Reduktion von Metalloxiden) und der heterogenen Katalyse.
Bei der richtigen Orientierung dieser Einkristall-Saphir-Zelle als Probenhalter können Bragg-Reflexe des Containermaterials vollständig vermieden werden. Daraus resultieren qualitativ sehr hochwertige Neutronenbeugungsdaten mit einem sehr niedrigen Untergrund. So können Kristallstrukturen mit hoher Genauigkeit in Abhängigkeit von Gasdruck und Temperatur in zeitaufgelösten Untersuchungen bestimmt, chemische Reaktionen verfolgt, Zwischenstufen identifiziert und Festkörpersynthesen optimiert werden.
Publikationen zu Feststoff-Gas-Reaktionen
- S. Keilholz, R. Paul, L. Y. Dorsch, H. Kohlmann, In Situ X-ray Diffraction Studies on the Reduction of V2O5 and WO3 by Using Hydrogen, Chem.–Eur. J. 2023, 29, e202203932; doi.org/10.1002/chem.202203932
- A. Götze, S. C. Stevenson, T. C. Hansen, H. Kohlmann, Hydrogen induced order-disorder effects in FePd3, Crystals 2022, 12, 1704; doi.org/10.3390/cryst12121704
- S. Keilholz, H. Kohlmann, H. Uhlenhut, A. Gabke, M. García-Schollenbruch, In situ X-ray diffraction Studies on the Production Process of Molybdenum, Inorg. Chem. 2022, 61, 10126–10132; doi.org/10.1021/acs.inorgchem.2c01226
- R. Finger, N. Kurtzemann, T. C. Hansen, H. Kohlmann, Design and use of a sapphire single-crystal gas-pressure cell for in situ neutron powder diffraction, J. Appl. Crystallogr. 2021, 54, 839–846; doi.org/10.1107/S1600576721002685
- H. Kohlmann, Looking into the Black Box of Solid-State Synthesis, Eur. J. Inorg. Chem. 2019, 4174–4180; doi: doi.org/10.1002/ejic.201900733
SmCo5 ist bis heute eines der stärksten permanentmagnetischen Materialien mit einer der höchsten Koerzitivitäten. Seine hohe Curie-Temperatur von etwa 1020 K und das effektive magnetische Moment zwischen sieben und acht Bohrschen Magnetonen pro Formeleinheit qualifizieren SmCo5 zur Nutzung in sogenannten Supermagneten, welche Anwendung in Turbinen, Kompressoren, elektrischen Motoren, Gitarren, Kopfhörern oder NMR-Spektrometern finden. Obwohl SmCo5 das Lehrbuchbeispiel für Permantmagneten schlechthin ist, war seine magnetische Struktur oberhalb von Raumtemperatur und eine vermutete Umwandlung in einen ferrimagnetischen Zustand bei 350 K überraschenderweise noch nicht endgültig geklärt. Die Neutronendiffraktion als wertvolles Werkzeug zur Bestimmung der Magnetstruktur hat in diesem Fall eindeutig bewiesen, dass das magnetische Moment von Samarium bei 650 K ein Minimum von 0,2 Bohrschen Magnetonen aufweist, aber dennoch positiv bleibt und weiterhin parallel zu den magnetischen Momenten des Cobalts ausgerichtet ist (siehe Abbildung, kleine grüne Pfeile). Mehr als 50 Jahre nach der Entdeckung dieses magnetischen Materials zeigt diese Arbeit die Kristall- und magnetischen Strukturen des SmCo5 von der Curie-Temperatur hinunter bis zu 5 K und beweist, dass es durchgehend ein Ferromagnet ist.
Publikationen zu magnetischen Materialien
- A. Götze, S. C. Stevenson, T. C. Hansen, H. Kohlmann, Hydrogen induced order-disorder effects in FePd3, Crystals 2022, 12, 1704; doi.org/10.3390/cryst12121704
- H. Kohlmann, T. C. Hansen, V. Nassif, Magnetic Structure of SmCo5 from 5 K to the Curie Temperature, Inorg. Chem. 2018, 57, 1702-1704, DOI: 10.1021/acs.inorgchem.7b02981
Leuchtstoffe sind im Alltag allgegenwärtig --- ob in Bildschirmen elektronischer Geräte, als lichtemittierendes Material in einer LED oder als Fluoreszenzfarbstoff auf Geldscheinen. Solche photolumineszente Materialien bestehen i. d. R. auf einem Wirtsgitter, in das geringe Mengen von Aktivatoren eindotiert werden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Metallionen erlaubt die elektronische Struktur des Aktivatorions Eu2+ eine Beeinflussung der Emissionswellenlänge durch Wahl einer geeigneten Wirtsstruktur. Der angeregte Zustand (4f65d1) wird durch Ligandenfeldaufspaltung und mehr noch durch eine Verschiebung des Schwerpunktes der d-Zustände durch kovalente Interaktionen mit Liganden beeinflusst (nephelauxetischer Effekt). Für Halogenide ist dieser Effekt sehr gering und das Ligandenfeld schwach, was zu einem hochenergetischen, angeregten Zustand und der Emission von kurzen Wellenlängen (violett-blau) führt. Für Hydridionen ist der nephelauxetische Effekt hingegen stark und der Schwerpunkt des angeregten Zustandes daher deutlich abgesunken, was zu höheren Emissionswellenlängen führt. Der schrittweise Ersatz von Fluorid- durch Hydridionen erlaubt hierbei eine stufenlose Einstellung der Emissionswellenlänge. Allerdings sind die weitgehend ionisch aufgebauten Metallhydride und -hydridfluoride sehr luftempfindlich, was deren Anwednungen einschränkt. Einen vielversprechenden Ansatz zur Lösung dieses Problems bieten hier Leuchtstoffe, deren Wirtsgitter neben Hydridionen noch weitere strukturgebende Anionen wie Silikationen enthalten. So kann zum Beispiel die Emissionswellenlänge der Verbindung LiSr2SiO4H:Eu (λmax = 560 nm) durch den Einsatz von Hydridionen gegenüber ihrem Fluorid-Analogon LiSr2SiO4F:Eu (λmax = 538 nm) erhöht werden, gleichzeitig bleibt die Verbindung aber im Gegensatz zu Verbindungen mit rein hydridischen Wirtsgittern unter Umgebungsbedingungen stabil. Dies vereinfacht nicht nur die Anwendung, sondern erweitert auch die möglichen Einsatzbereiche derartiger Leuchtstoffe.
Publikationen zu Leuchtstoffen
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C. Pflug, H. Kohlmann, Structural Distortion on Perovskite Type KCaH3–xFx (0.54 ≤ x ≤ 3), Z. Anorg. Allg. Chem. 2020, 646, 175–179
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F. Gehlhaar, R. Finger, N. Zapp, M. Bertmer, H. Kohlmann, LiSr2SiO4H, an Air-Stable Hydride as Host for Eu(II) Luminescence, Inorg. Chem. 2018, 57, 11851−11854, DOI:10.1021/acs.inorgchem.8b01780
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N. Kunkel, A. Meijerink, H. Kohlmann, Bright yellow and green Eu(II) luminescence and vibronic fine structures in LiSrH3, LiBaH3 and their corresponding deuterides, Phys. Chem. Chem. Phys. 2014, 16, 4807-4813, DOI:10.1039/C3CP55102D
Zintl-Phasen sind polare intermetallische Verbindungen an der Grenze zwischen ionischen Salzen und Metallen (M), welche aus einem Metall der ersten oder zweiten Hauptgruppe und einem Element aus der dreizehnten bis sechzehnten Hauptgruppe (X) bestehen. Sie enthalten Polyanionen, welche durch die allgemeine 8-N-Regel, unter der Annahme eines Elektronentransfers von M-- zu X-- Atomen, erklärt werden können. Bei der Reaktion von Zintl-Phasen mit Wasserstoff können äußerst spannende Beobachtungen gemacht werden. Eine filigrane Redox-Chemie erlaubt die Einlagerung von Wasserstoffatomen in Zwischengitterplätze, die Oxidation der Polyanionen, die Ausbildung neuer X-X- oder X-H-Bindungen und die Insertion von Wasserstoffatomen in die X-X-Bindung (siehe Abbildung). Die Hydrierung von Zintl-Phasen erzeugt Hydride mit den verschiedensten Strukturen und Bindungsmustern. Systeme mit leichten und gut verfügbaren Elementen wie z. B. CaSi -- Ca3Si3H4 oder KSi -- KSiH3 sind zudem interessante Wasserstoffspeichermaterialien.
Publikationen zu Zintl-Phasen-Hydriden
- A. Werwein, H. Kohlmann, Synthesis and Crystal Structure of BaLaSi2H0.80, Z. Anorg. Allg. Chem. 2020, 646, 1227–1230; doi:10.1002/zaac.202000152
- H. Auer, F. Yang, H. Y. Playford, T. C. Hansen, A. Franz, H. Kohlmann, Covalent Si–H Bonds in the Zintl Phase Hydride CaSiH1+x (x ≤ 1/3), Inorganics 2019, 7, 106; doi:10.3390/inorganics7090106
- A. Werwein, H. Auer, L. Kuske, H. Kohlmann, From Metallic LnTt (Ln = La, Nd; Tt = Si, Ge, Sn) to Electron-precise Zintl Phase Hydrides LnTtH, Z. Anorg. Allg. Chem. 2018, 644, 1532–1539, DOI: 10.1002/zaac.201800062